Tom Burr gehört einer Generation von Künstlern an, die sich seit Anfang der 1990er-Jahre, ausgehend von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Minimal Art, mit den politischen und kritischen Implikationen von Kunst beschäftigt. Im Gegensatz zu ihren Vorreitern und deren institutionskritischen Ansätzen, ist für Künstler wie Burr und seine Zeitgenossen Mark Dion, Renée Green, Andrea Fraser und Christian Philipp Müller das Museum bzw. der klassische Ausstellungsraum im Sinne des „white cube“ nicht mehr der einzig gültige Bezugspunkt. Vielmehr hat sich der Bezugsrahmen auf diverse Orte erweitert: von naturhistorischen und völkerkundlichen Sammlungen über Pseudomuseen, Zoos und Parks bis hin zu öffentlichen Toiletten. Das Museum oder der Galerieraum werden lediglich als eine Institution unter anderen innerhalb eines breiteren Netzwerks sozialer und kultureller Strukturen verstanden und verhandelt. Folglich findet Burrs Kunst zumeist in Zwischenräumen statt. Seine Arbeiten behandeln Fragen der Öffentlichkeit und der Strukturierung öffentlicher Räume. Sie basieren auf einer gründlichen Recherche, bedienen sich dokumentarischer Mittel und artikulieren kritische Bestandsaufnahmen sozial-politischer Verhältnisse.
Was nach reiner Theorie klingen mag, äußert sich allerdings so vielschichtig und ambivalent, wie es das öffentliche Leben selbst ist. Mit den Begriffen "Aneignung" und "Sampling" könnte man die Verfahrensweisen benennen, mit denen Tom Burr operiert, um eingefahrene Machtstrukturen offen zu legen, gesellschaftliche Kodierungen zu entlarven oder zu unterlaufen. Burr jongliert mit vorgefundenen Formen, Farben, Materialien und Inhalten und vermag durch Verschiebung – oftmals auch zwischen dem öffentlichen Raum und dem Kunstraum – längst Erstarrtes aufzubrechen. In seinem architektonischen und skulpturalen Werk inszeniert Burr Orte des Alltags und der Subkultur, wie öffentliche Toiletten, Gartenhecken, Pornokinos, düstere Bars und Videokojen.
Wie bei vielen seiner Zeitgenossen trifft man bei Tom Burr auf einen Aspekt der Minimal Art, den der amerikanische Kunsthistoriker Michael Fried in seinem berühmten Aufsatz „Kunst und Objekthaftigkeit“ von 1967, als Mangel, als Schwachpunkt dieser Kunstrichtung kritisierte: die Theatralität. Bemerkenswerterweise hat ausgerechnet dieser vermeintliche Schwachpunkt jüngst eine Renaissance erfahren und bei einigen Künstlern zu einer Repolitisierung, ja zu einer (Homo-)Sexualisierung der Kunst geführt, zu einer Kunst, die sich öffentlicher Orte und Strukturen annimmt und mit Ironie und Nachdruck eine puritanische Restriktionspolitik des Vertuschens und Verschweigens offen legt.
Ausgewählte Werke:
Central Park Visitor’s Center: The Ramble (1992): The Ramble bezeichnet einen bestimmten Teil des Central Parks in New York, der einem natürlichen Wald nachempfunden ist. Topographie und Bewuchs dieses Gebietes haben zur Ansiedlung seltener Vögel geführt, die ihrerseits Vogelliebhaber anziehen. „Die »birdwatchers« gehören zur Folklore des Central Park wie [...] die Schwulen, mit denen sie sich dasselbe Biotop für unterschiedliche Zwecke teilen. The Ramble ist das traditionsreichste und bekannteste Cruising-Gebiet von Manhattan.“ Burrs Arbeit setzt sich mit der Art der Darstellung dieses Areals im so genannten Visitors Center auseinander und legt offen, was diese zu marginalisieren intendiert, nämlich die sexuelle Vereinnahmung eines Teil des Parks durch eine unerwünschte Gruppe und das daraus resultierende Scheitern der Regulierung öffentlichen Verhaltens durch die Inhaber der Macht.
42nd St. Structures (1995) ist der Titel einer Ausstellung in der New Yorker Galerie American Fine Arts mit der Tom Burr auf die “Sanierung” des Times Square und der damit verbundenen Schließung zahlreicher Porno-Shops in Midtown Manhattan reagiert. Burr eignet sich die typischen architektonischen Elemente dieser Orte an, abstrahiert deren Formen und Materialien in Anlehnung an die kühle Ästhetik der Minimal Art, die er wiederum durch die gezielte Brechung – z.B. durch die Verwendung von Spiegeln rekontexualisiert und sexuell auflädt. Partitions, Video Booth und Wall heißen Exponate dieser Ausstellung, die wie Relikte auf die ausgelöschte Subkultur verweisen. Texte legen die “erotische Geschichte” New Yorks und ihre gesellschaftspolitischen Hintergründe offen, die Burr im Zuge dieses Projekts recherchierte.
Deep Purple (2000): Burr realisiert diese Installation anlässlich einer Ausstellung im Kunstverein Braunschweig. Zwei Jahre später zeigt das Whitney Museum of American Art in New York Tom Burrs an einen geschwungenen, leicht gekippten Zaun erinnernde, violette Skulptur erneut und bringt die Arbeit so in die Stadt, in der das Kunstwerk, auf das Burrs Skulptur rekurriert, einst stand: Richard Serras Tilted Arc (1981). Serras Auftragswerk für das New Yorker Federal Plaza entfachte in den 1980er-Jahren eine beispiellose Diskussion zum Thema Kunst im öffentlichen Raum, die zu dessen Demontage führte.
Abgesehen von der bewussten und auf den ersten Blick dominanten formalen Aneignung von Serras Tilted Arc stattet Tom Burr Deep Purple mit einem reichhaltigen Vokabular an Assoziationen aus, die rückblickend eine Betrachtung des Vorbildes in einem erweiterten Bezugsrahmen ermöglichen. Ausgehend von der Titelgebung nach der gleichnamigen 1980er-Jahre Rockband über die lila Färbung bis zu Anspielungen an Schriften Edgar Allan Poes verleiht Burr der dem minimalistischen Paradewerk entlehnten Form ein neues schillerndes Kleid.
Kurzbiographie:
Tom Burr: *1963 in New Haven, Connecticut. Er lebt und arbeitet in New York. Von 1982 bis 1986 studierte er an der School of Visual Arts in New York. Anschließend, von 1987 bis 1988, besuchte er das renommierte Whitney Independent Study Program. Tom Burr setzt sich in seinem Werk intensiv mit der Minimal und Post-Minimal Art und einigen ihrer wichtigsten Vertreter, wie z.B. Tony Smith, Donald Judd, Robert Smithson, Eva Hesse und Dan Graham, auseinander. Wie einige von ihnen publiziert Burr zahlreiche eigene Texte.
Ausgewählte Ausstellungen:
Einzelausstellungen: 2005 ROMA ROMA ROMA, Rom / 2003 American Fine Arts, Co., Colin De Land Fine Art, New York; Galerie Christian Nagel, Köln / 2002 Galerie Almine Rech, Paris; The Whitney Museum of American Art, New York; Greene Naftali Gallery, New York / 2001 Galerie Neu, Berlin / 2000 Kunstverein Braunschweig, Braunschweig / 1999 Galerie Almine Rech, Paris / 1998 Galerie Neu, Berlin; Galerie Marta Cervera, Madrid / 1997 American Fine Arts, Co., New York / 1995 American Fine Arts, Co., New York / 1994 American Fine Arts, Co., New York / 1992 White Columns, New York.
Gruppenausstellungen: 2005 Down the Garden Path: The Artist´s Garden After Modernism, Queens Museum of Art, Queens, New York / 2004 Election, American Fine Arts, Co., Colin de Land Fine Art, New York; Genealogies of Glamour. The Future Has a Silver Lining, Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich; Braunschweig Parcours 2004, Braunschweig; It´s All an Illusion, Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich / 2002 Centre National d´Art Contemporain de Grenoble / 2001 Partnerschaften: Unterbrochene Karrieren: Ull Hohn & Tom Burr, NGBK, Berlin / 2000 Quiet Life, Ursula Blickle Stiftung, Kraichtal, Deutschland; Sightings, Bard College, Annandale-on-Hudson, New York / 1998 Model, Österreichische Galerie Belvedere, Wien / 1995 Architectures of Display, mit dem Architekten Toshiki Mori, Architectural League of New York, New York; Platzwechsel, Kunsthalle Zürich und Schweizer Nationalmuseum, Zürich; Mapping: A Response to MOMA, American Fine Arts, Co., New York / 1994 Lace, Los Angeles; The New Museum of Contemporary Art, New York / 1993 Kontext Kunst, Künstlerhaus Graz, Österreich; What Happened to the Institutional Critique, kuratiert von James Meyer, American Fine Arts, Co., New York; Sonsbeek ´93, Arnheim, Niederlande / 1992 White Columns, New York / 1988 Whitney Independent Study Program, New York.
Ausgewählte Publikationen:
Partnerschaften: Unterbrochene Karrieren, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst e.V. (NGBK), Berlin 2002; Juliane Rebentisch, „Mourning for Disco. Minimalismus, Theatralität, eine Theorie des Sehens und eine künstlerische Arbeit“, in: Starship, Nr. 3, 2000, S. 54-63; Platzwechsel: Ursula Biemann, Tom Burr, Mark Dion, Christian Philipp Müller, Kunsthalle Zürich, Zürich 1995.
Abbildungen:
Video Booths (1995), Teil der Installation 42nd St. Structures, Holz, Plexiglas, 304,8 x 134 x 228,6 cm
Deep Purple (2000), Holz, Stahl, 250 x 2500 x 44 cm
Courtesy galerie neu
|